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Aussterbende Musik?

Die letzte Tournee der Philharmoniker führte uns unter anderem nach Paris. Diese Stadt ist ein häufiges Ziel für uns, weil dort mit der recht neuen Philharmonie ein Konzertsaal steht, der für mich zu den besten gehört, die ich kenne. Wenn man Städte häufig besucht, gibt es den angenehmen Nebeneffekt, dass man sich auch für Unternehmungen Zeit nehmen kann, die man bei einem ersten oder zweiten Besuch vielleicht nicht auf die Prioritätenlisten setzen würde.  Was ich im Folgenden beschreibe, gehört bestimmt dazu. Gerade deshalb möchte ich es Ihnen aber nahelegen. 

Sollten Sie nach Paris reisen, lohnt es sich, einmal früh aufzustehen und die Laudes in der Kathedrale von Sacré-Cœurs mitzuerleben. Dieses erste Stundengebet der Nonnen, das um 8 Uhr morgens beginnt, ist ein spirituelles und musikalisches Erlebnis. Macht man sich früh auf den Weg zu der eindrucksvollen Kathedrale, wird man vor dem Betreten des imposanten Gebäudes mit einem grandiosen Blick über die Stadt belohnt, der in den frühen Morgenstunden mit ganz besonderen Farbspielen aufwartet. Betritt man anschließend die Kirche, ist sie mit Ausnahme von vielleicht zehn Besuchern komplett leer. Wenn dann der glockenreine Gesang der Nonnen einsetzt, kann man sich dem Zauber dieses Zusammenwirkens von Musik und Raum nicht mehr entziehen. Begleitet werden die Sängerinnen nicht von der Orgel, sondern von einem Instrument, das wie ein Hackbrett aussieht, aber gezupft wird. Die liturgischen Gesänge bestehen aus Melodiefolgen, die ich so von keiner anderen Musik kenne. Die Melodien sind einstimmig und wechseln nur ganz selten in die Mehrstimmigkeit. In ihrer Klarheit sind die Gesänge kraftvoll und tiefgehend, selbst wenn man, so wie ich, die französischen Texte nicht versteht.

Die Laudes dauert etwa 40 Minuten und ich muss sagen, dass man einen Tag in Paris nicht besser beginnen kann. Auch das anschließende Frühstück, das man idealerweise in einem der kleinen Cafés rund um die Kathedrale zu sich nimmt, schmeckt nach dieser Morgenandacht besonders gut.

Bei meinem letzten Besuch waren nur acht Nonnen im Altarraum zu sehen, alle eher älteren Semesters. Es ist ein naheliegender Gedanke, dass aufgrund des Mangels an Nachwuchs in den klösterlichen Gemeinschaften diese Form der liturgischen Feier in absehbarer Zeit von der Bildfläche verschwinden wird – und mit ihr der besondere Gesang. Haben wir es also mit einer aussterbenden Musikform zu tun? Ein befremdlicher Gedanke ...

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Kommentare: 2
  • #1

    Markus Bruggaier (Dienstag, 07 Mai 2024 11:40)

    Auch die Orgel in der Kirche ist einzigartig. Es ist eine sehr große Orgel, die von dem legendären Orgelbauer Cavallié-Coll gebaut wurde und meines Wissens als einzige noch in der originalen Disposition mit sehr dominanten Zungenregistern - auf dieser Orgel klingt zum Beispiel die Toccata von Widor überwältigend.

  • #2

    Uli (Dienstag, 07 Mai 2024 20:47)

    Danke für den Hinweis, Markus. Ich werde die Orgel in jedem Fall mal anhören.