Es ist nicht leicht, in diesen unberechenbaren Zeiten eine Kolumne über Musik zu schreiben, wo doch niemand weiß, welche Auswirkungen die Allmachtphantasien des russischen Diktators bis zum Erscheinen auf uns alle haben werden.
Vielleicht ist es interessant, zwei Systeme zu vergleichen: Politik und Musik.
In einer sehr hörenswerten Folge von „Das Politikteil“, einem Podcast der ZEIT, beschreibt der Politologe Herfried Münkler das interessante Phänomen des Realitätsverlusten von Diktatoren. Er nennt es „Das Gesetz der fortschreitenden Verdummung“. Indem Autokraten jegliche aufrichtige Stellungnahme und ehrliche Information durch Repression unterbinden, auch bei nahestehenden Beraterinnen und Berater, entstehen sehr einsame Entscheidungen, die sich immer weiter von der Realität entfernen und immer fragwürdiger, problematischer und fehlerhafter werden. Dies kann fatale Konsequenzen haben, für diejenigen, die angegriffen oder unterdrückt werden, aber auch für die Diktatoren selbst.
Auch im Orchesterbereich gab es Formen von Diktaturen. Die Ausmaße zu vergleichen wäre natürlich vermessen, aber auch dort haben Menschen gelitten und das ist entscheidend. Der angeblich so große Karl Böhm war laut Aussagen von (inzwischen meist verstorbenen) Kollegen ein Beispiel dafür. Indem er Musiker (Frauen gab es damals noch nicht im Orchester) vor den Kollegen bloßstellte und sie einzeln vorspielen ließ, bis sie vor Angst kaum mehr das Instrument halten konnten, erreichte er zwar eine enorme Disziplin und vielleicht auch etwas, das man ein funktionierendes Orchester nennen konnte, ein frohes, gemeinsames Musizieren, ein Geben und Nehmen blieb ihm aber bestimmt vorbehalten. Schade für ihn.
Auch ich habe noch erlebt, dass bei den alten Maestros so gut wie nie jemand wagte, Probleme anzusprechen und aufrichtig die Folgen eines problematischen, oder sogar schädlichen Handelns darzustellen. Mittlerweile hat sich aber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, etwas verändert. Die neue Generation von Dirigenten achtet sehr auf einen Umgang auf Augenhöhe, darauf, dass ein Konzert etwas Gemeinschaftliches, etwas mit positiver Intensität wird - nicht die Selbstdarstellung eines Tyrannen. Sie können sich vorstellen, unter welchen Systemen die Musiker*innen besser spielen.
Dieser Weg ist definitiv der, von dem alle Seiten mehr profitieren, auch das Publikum. Ein Weg, der in die Zukunft führt, ein nachhaltiger Weg.
Früher oder später wird sich dieser Weg auch in den Gesellschaften dieser Welt durchsetzen. Zumindest hoffe ich das. Nein. Ich bin überzeugt davon.
https://www.ulrichhaider.de/home/blog-ulrich-haider-schreibt-über-musik/
https://www.zeit.de/politik/2022-03/ukraine-russland-krieg-europa-herfried-muenkler-politikpodcast
Kommentar schreiben
Ursl Etzel (Dienstag, 05 April 2022 07:30)
Lieber Uli,
Ich freu mich immer auf deine neue Kolumne. Danke für deine guten Gedanken und Inspirationen auch heute wieder. Vielleicht klappt ja ein Treffen in den Osterferien. Ich würde mich riesig freuen euch wiederzusehen. Ganz liebe Grüße Ursl und Heinrich